Hier finden Sie Meinungen, Kommentare und Rezensionen zu ausgewählten Büchern:

(Der jeweilige Inhalt spiegelt nicht in jedem Fall die Meinung des Alsfelder Literaturbrunnens wider.)

Navid Kermani, Große Liebe

Ein Roman, erschienen im Hanser Verlag 2014

Was haben die Erlebnisse eines verliebten Fünfzehnjährigen mit den Gedanken großer arabischer Mystiker des Mittelalters zu tun? Viel! So die Meinung des bekannten und preisgekrönten Autoren Navid Kermani:

„Es wird einen Grund geben, warum Ibn Arabi ausdrücklich nur die frühe Verliebtheit als vergleichbar, als verwandt, als nicht nur den Symptomen nach übereinstimmend mit dem ‚Ertrinken‘ des Mystikers bezeichnete. Vielleicht sind wir gerade dort wir, wo wir es am wenigsten zu sein meinen.“

Dem eigenen Ich ist Kermani wohl auf der Spur, wenn er in ‚Große Liebe‘ die Geschichte seiner kurzen, aber umso intensiveren Schulhofliebe erzählt, an die er sich nur in Bruchstücken erinnern kann, Bruchstücke allerdings, die er in wundervoll poetischer Sprache zu fragilen Brücken gestaltet in eine ferne, vergangene Welt: die der Friedensbewegung Anfang der Achtziger Jahre in einem kleinen  Städtchen im Rheinland.

„Aber was ist schon Wirklichkeit, um mit Ibn Arabi zu fragen , wo endet der Traum, wenn mir eine Situation, die ich vor dreißig Jahren erlebt, so viel anschaulicher ist als die Gegenwart, die mit Rauhreif bedeckt scheint, alle Töne und Lichter wie gedämpft. (…) Und doch ist die Szene, gleichzeitig wie aus einer anderen Welt, einem anderen Leben, insofern ich nur noch die Handlung kenne, aber den Jungen nicht mehr von innen zu beschreiben vermöchte, wann er sich welche Gedanken machte, wie er auf diese oder jene Ahnung verfiel, ob Hoffnung ihn antrieb oder die nackte Verzweiflung. Als sei ich ein anderer, stünde auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig,…“

In 100 kurzen Kapiteln, welche den überschaubaren Zeitraum der Liebesbeziehung in Tagen widerspiegeln, führt Kermani den Leser in die Seelenzustände des Jugendlichen, in seine anfängliche Verwirrtheit , seinen Mut sich lächerlich zu machen, den Glückszustand beim Zusammensein mit der Geliebten und schließlich sein Leiden an der Trennung und Auflösung.

Dabei wirkt die Geschichte nie trivial. Sie liest sich leicht und ist dennoch tiefsinnig und anspruchsvoll, sie lebt von leiser Ironie und anrührender Ernsthaftigkeit.

Für jemanden, der – wie ich  –  selbst in der genannten Zeit in Bonn gelebt hat, ist dieses Buch aufgrund der liebevollen Beschreibung der damaligen Stimmung und Atmosphäre in der Gesellschaft ein ganz besonderes Lesevergnügen.

(Aegidius Kluth)

Luca di Fulvio, Der Junge, der Träume schenkte.

Ein Roman,

aus dem Italienischen übersetzt von Petra Knoch,

als Taschenbuch erschienen bei Bastei Lübbe 2011.

„Voller Eifer hat er sich in die Tasten gestürzt, all das durchlebt, wovon er schrieb, als wäre er selbst mittendrin bei seinen Figuren: Freundschaft, den Kampf ums Emporkommen oder schlicht ums Überleben, die Existenzen der Lower East Side. Und der Traum von Liebe. Die Welt, wie sie sein sollte. Vollkommen und sinnhaft auch im Schmerz, in der Tragödie. Danach hat er gestrebt: Er hatte dem Leben einen Sinn verleihen und es weniger zufällig machen wollen. Denn die Vollkommenheit bestand nicht darin, Erfolg zu haben, etwas zu schaffen oder einen Traum wahr zu machen, sondern in der Sinnhaftigkeit. So hatten in seiner Geschichte auch die Bösen ihren Sinn gefunden. Und jedes Leben war mit den andern verwoben wie die Fäden eines Spinnennetzes, die sich alle miteinander zu einem übergeordneten Ganzen verbanden. Er wollte ein reales Bild zeichnen, kein abstraktes. Ohne falsches Pathos sollte es sein, ironisch. Gefühlvoll.“

Luca di Fulvio beschreibt mit diesen Worten die Arbeit seines Protagonisten Christmas Luminitia an dessen Theaterstück, das den vorläufigen Höhepunkt eines Aufstiegs im New York der sogenannten zwanziger Jahre bilden sollte. Des Aufstiegs vom armen Sohn einer italienischen Prostituierten zu einem reichen Star der amerikanischen Kulturszene. Das hört sich ganz nach der alten Geschichte vom amerikanischen Traum an und ist es wohl in großen Teilen auch. Dass es dennoch nicht allzu klischeehaft wird, liegt für mich daran, dass auch bei Luca di Fulvio vieles von dem zu spüren ist, was er im obigen Zitat seinem Christmas zuschreibt. Es gelingt ihm auf den fast 800 Seiten und 70 Kapiteln die Fäden der vielen schillernden Persönlichkeiten, die er beschreibt, zu einem großen faszinierenden Ganzen zu verbinden und er schreibt, als wäre er selbst mittendrin bei seinen Figuren.

Der Roman ‚Der Junge, der Träume schenkte’ bietet einen spannenden Einblick in die brutale Gangsterwelt Manhattans, erzählt aber auch gefühlvolle Geschichten von Freundschaft und Liebe. Lesenswert.

(Aegidius Kluth)

 

Rezension von Anja Kraus, HP und Redakteurin der LACHESIS für Lachesis e.V. Newsletter 2/15

Barbara Degen, Bethel in der NS Zeit

Die verschwiegene Geschichte

VAS-Verlag für Akademische Schriften, 2014

Barbara Degen ist Historikerin und Mitarbeiterin im Haus der Frauengeschichte. Ihr Großvater war Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis. Damals wurden insbesondere Kinder und Erwachsene mit sogenannten Behinderungen, von Blindheit bis zu psychischen „Auffälligkeiten“, Opfer dieses verdeckten Tötungsprogrammes. Die Euthansie diente auch als Feldforschung zum Errichten der späteren Massenvernichtungsanlagen wie Auschwitz und anderen. So wurden Euthanasieopfer erstmals in Pirna in Gaskammern getötet.

Für Frau Degen war die persönliche Betroffenheit ihrer Familie Anlass, die Akten der protestantischen Bodelschwingschen Anstalten in Bielefeld, bekannt unter dem Namen „Bethel“, zu sichten und zu erforschen.

Ihre Forschungsergebnisse haben Skandale, Diskussionen und Betroffenheit ausgelöst, bis hin zu dem Umstand, dass Akten, die sie während ihrer Arbeit gesichtet hatte, beim späteren Besuch in Bethel verschwunden waren.

Bethel stand im Ruf, sich nicht an der Euthanasie beteiligt zu haben und sogar verstärkt zur Rettung der Menschen eingetreten zu sein. Die Akten sprechen eine andere Sprache.

In sieben übersichtlichen Kapiteln und in einer für eine wissenschaftliche Arbeit leicht zu lesenden Sprache analysiert Frau Degen z.B.  im Kapitel „Zu viele gestorbene Kinder“.

Viele behinderte Kinder sind angeblich an Infektionskrankheiten gestorben. Dies war als erklärte Todesursache gängige Praxis, um die Angehörigen über das plötzliche Versterben zu informieren. Obwohl Bethel über eine eigene Krankenstation für Infektionskranke verfügte, sind diese Kinder aber nie dorthin überwiesen worden. Behinderten Kleinkindern wurde eine Kur von fettarmer Kost sowie dem Beruhigungsmittel Luminal verabreicht. Diese Kombination wirkt auf Dauer tödlich. Die meisten der dort eingewiesenen Säuglinge sind unter einem Jahr verstorben.

Die Definition der „mütterlichen Liebesdienste“, Bethels Geschichte, den Umschwung ab 1938, die Jahre 1940-45 sowie die Geschichte der Anstalt nach 1945 sind weitere Inhalte der folgenden Kapitel.

So deckte sie auf, dass auch dort Zwangssterilisierungen zum Anlass genommen wurden, die davon Betroffenen später in die Konzentrationslager zu überführen, da ihr „unwertes Leben“ ja bereits aktenkundig war.

Erschütternd ist auch, daß es eine. Umbewertung in der protestantischen Leitphilosophie der Nächstenliebe gab: Euthanasie wurde als „Liebesdienst 2“ bezeichnet. Indem man das Leben behinderter Menschen als unwürdig und quälend definierte und daraus folgend den Tod als Erlösung, wurde offiziell und später auch im Krankenschwesternunterricht die Hilfe zum Sterben als Liebesdienst definiert, eine perfide Methode, um systematisches Töten auch bei den Angestellten im christlichen Haus zu rechtfertigen.

Widerstand der Anstaltsleitung gegenüber einigen Anordnungen kam erst auf, als der „Liebesdienst 2“ auch an kriegstraumatisierten und kriegsversehrten Soldaten angewendet werden sollte, vorher wurde artig mit den Nationalsozialisten kooperiert.

Die Opfer wurden bis heute bis auf wenige Ausnahmen weder entschädigt noch betrauert. Viele hatten nach dem Ende des Faschismus durch ihre Stigmatisierung unter weiterer Diskriminierung zu leiden.

Das Buch ist illustriert unter anderen bedeutsamen Bildern behinderter KünstlerInnen von Zeichnungen und Kunstwerken der behinderten Künstlerin Elfriede Lohse-Wächter. Sie schafft es, das Leiden der Betroffenen in ihren Bleistiftzeichnungen im Stil des tiefen Gefühlsausdrucks von Käthe Kollwitz sichtbar zu machen.

Wer heute in Institutionen arbeitet, in denen behinderte Menschen leben, sollte sich das Buch nicht entgehen lassen. Es zeigt überdeutlich, wie unmenschliche Ziele in schöne Worte gepackt werden und im Unterricht hübsch verpackt zu Leitgedanken werden.

Es braucht mutige Menschen, die diese Mechanismen immer wieder benennen und durchschauen, um den Wandel zu einer besseren Gesellschaft zu unterstützen.

(Anja Kraus)