‚Die Quellen für eine Biographie von Nietzsches Schwester sind spektakulär’- Mit diesen Worten eröffnete Prof. Dr. Ulrich Sieg aus Marburg eine eindrückliche Veranstaltung im Antiquariat Buchbasalt, bei der er sein im März diesen Jahres veröffentlichtes und beim Hanser-Verlag erschienenes Buch ‚Die Macht des Willens’ vorstellte. Von der spektakulären Quellenlage über das eigentümliche Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche hat sich der aus Lübeck stammende Historiker selbst durch intensives Studium im Nietzsche Archiv in Weimar überzeugen können.

Ulrich Sieg gelang es bei seinem Vortrag von Beginn an seine Zuhörerschaft im Alsfelder Buchladen in Bann zu ziehen, indem er davon berichtete, wie er in die Beschäftigung mit dieser einflussreichen Persönlichkeit des beginnenden 20. Jahrhunderts, deren Nachlass mit mehr als 40000 Dokumenten größer sei als derjenige Goethes, hineingezogen wurde.IMG_1082

Elisabeth Förster-Nietzsche ist bekannt dafür, dass sie sich seit der Jahrhundertwende akribisch um die Archivierung und Erschließung der nachgelassenen Papiere, Briefe und Werke ihres Bruders, mit dem Ziel seiner ‚irdische Verewigung’, bemühte. Dass sie dabei ‚gezielte Erinnerungspolitik’ betrieb, die auch vor Manipulationen nicht zurückschreckte , hat ihr den Ruf einer kompromiss- und rücksichtslosen Intrigantin eingebracht. Diesem Klischee einer ‚dunklen Manipulatorin’, von dem Jens Hacke in einer Renzion des Buches in der ‚Zeit’ schreibt, wollte Ulrich Sieg in seinem Vortrag zwar nicht gänzlich widersprechen, jedoch sei ihm wichtig gewesen, ein differenzierteres Bild dieser außergewöhnlich durchsetzungsfähigen und schlauen Frau zu gewinnen, die die Eitelkeiten der Größen ihrer Zeit wahrzunehmen vermochte und dies für sich und ihre Lebenssicherung zu nutzen wusste.

In diesem Zusammenhang sei auch festzustellen, dass Friedrich Nietzsches selbst wohl keineswegs das Wunderkind gewesen sei, für das er vielfach bis heute gehalten werde. Wie vieles andere verdanke er diesen Nimbus überwiegend seiner Schwester, die sich seit 1893 der Vermarktung ihres Bruders gewidmet habe und die Popularität des Philosophen durch Verbreitung solcher Legenden zu verstärken wusste. Mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung Elisabeths hob Ulrich Sieg dennoch die Bedeutung der ungewöhnlich engen Verbindung der beider Pastorenkinder heraus, die das übliche Maß einer Geschwisterbeziehung weit überstiegen habe. Mit entsprechenden Zitaten aus Briefen und Tagebucheintragungen verdeutlichte der Referent nachvollziehbar, warum er zu dieser Einschätzung gekommen ist.

Ebenfalls prägend und jenseits des Üblichen seien Elisabeths Erfahrungen während ihres kolonialen Abenteuers in Paraguay gewesen, dem sie sich gemeinsam mit ihrem Mann, dem als Gymnasiallehrer gescheiterten Antisemiten Bernhard Förster, verschrieb. Förster wollte im dortigen Dschungel – den Ulrich Sieg im Rahmen seiner Recherchen auch selbst in Augenschein nahm – eine von Idealismus erfüllte Gemeinschaft, die ‚Nueva Germania’, ins Leben rufen, unter anderem mit dem Ziel der ‚Züchtung einer arischen Herrenrasse’. Dass Elisabeth sogar noch nach dem Scheitern des Projekts, dem Selbstmord Försters (1889) und ihrer Rückkehr nach Deutschland nicht aufgab für die Zukunft dieser rassistischen Idee zu werben, zeuge zum einen von ihrer Zähigkeit, für ihre Vorstellungen zu kämpfen, und mache zum anderen auch ihren weltanschaulichen Standort deutlich.

Somit erscheint es auch wenig verwunderlich, dass sie Jahrzente später, als sie Dank des hohen Ansehens des von ihr aufgebauten Nietzsche Archivs in Weimar sowohl wirtschaftlich, als auch gesellschaftlich zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Europas gezählt wurde, keine ideologischen Probleme mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte. Im Gegenteil: Umgehend versuchte sie nach 1933 die politische Situation für das Nietzsche-Archiv und den eigenen Vorteil zu nutzen.

‚Die Konsequenzen, die dieses Verhalten für ihr Ansehen und die Beurteilung der Philosophie ihres Bruders hat, sind bis heute kaum zu überschätzen’, so das Urteil des Marburger Historikers zum Abschluss seines packenden Vortrags, dem sich noch ein angeregtes Gespräch mit den Zuhörern anschloss.

 

Prof. Dr. Ulrich Sieg (*27.5.1960)

studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik an den Universitäten Kiel, Hamburg und Marburg. 1993 wurde er mit einer Arbeit zur Marburger Universitätsgeschichte zum Dr. phil. promoviert. 1999 habilitierte er sich mit einer Untersuchung zur deutsch-jüdischen Ideengeschichte im Ersten Weltkrieg. 2005 wurde er in Marburg zum außerplanmäßigen Professor ernannt.

 

 

Written by Aegidius